Franz Xaver Kroetz in der "Zeit" vom Oktober 1975 über "Zeit zum Aufstehn" 

E N D L I C H  S C H R E I B T  E I N E R  E I N  S T Ü C K  D E U T S C H E R  A R B E I T E R G E S C H I C H T E : 
R E A L I S T I S C H E R  B L I C K  A U F  P R O L E T A R I E R

Große Familie

August Kuhns Chronik „Zeit zum Aufstehn" Von Franz Xaver Kroetz

 

Das Buch fängt vor hundert Jahren an und hört heute auf. Es ist trotzdem kein „historischer" Roman, es wird nichts nach-erzählt. Es ist wirklich, was der Untertitel verspricht, eine Familienchronik, und das im besten Sinn, zwischen bayrischem Bäuernkalender und der Geschichte der Arbeiterbewegung, zwischen „Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes" und der Internationale -— August Kühn: „Zeit zum Aufstehn — Eine Familienchronik"; S. Fischer Verlag, Frankfurt, 1975; 446 S., 29,80 DM. Kühn fängt prologhaft mit heutigem proletarischem Familienleben in München an. Er sagt gleich, welchen Beschränkungen und Ängsten die heutigen Kühn-Familien ausgesetzt sind. Er kennt sich aus. Das hat mir auf jeder Seite am besten gefallen: Kühn + Kühn = Kühn. Da ist einer, der erzählt ohne doppelten Boden, der braucht für sein Erzählen nur einen Beweis: daß es so war, wie er es weiß. Ich. finde den Ansatz imponierend. Kühn hat festgestellt, daß er in der eignen Familienbiographie alles vorfindet, was man braucht, um endlich einmal hundert Jahre Münchner Arbeiterfamiliengeschichte zu schreiben. Er ist mit seinem Buch blutsverwandt, er braucht zum Schreiben keine Krücken, keinen Leim und keine Schminke. Das Buch wird so an seinen besten Stellen ein großes, ruhiges, literarisches Familienalbum, das vielen arbeitenden Menschen bei uns von der Geschichte der Arbeiterbewegung erzählt, andererseits kann es an seinen schwachen Stellen höchstens Verivandteninteresse beanspruchen. Die Geschichte der Kuhns ' unterscheidet sich nicht von Tausenden anderer Münchner Familiengeschichten. Da kommt eine „lustige" Dialektik zum Tragen: Je genauer ich vonderKühn-Familie persönlicher Biographie lese, um so genauer wird das Mosaik vieler Familien. Kühn erzählt — hochdeutsch hingeschrieben — eigentlich bayrisch. Das tut gut, da gibt's viel vom Aussterben bedrohtes Bayrisch: „Dreiquartelprivatiers", „Spezereienhändlergattin" und im Satzbau: „Die Frankl Marie war von ihm schwanger, aber bei ihrer Familie konnte er, ein Kühn, Sohn vom Packmeister Kühn, sich schon bitten lassen." Kühn hat seine „Sprach" durch seine Heimat. Das ist sehr schön. Alles, was die "Weltgeschichte im Rucksack hat, läuft mit der Familienchronik zusammen. Dabei macht er die Familie-immer als Klasse identifizierbar. Das sollte zwar selbstverständlich sein, aber wo, außer bei Kühn, ist es das in unsern Romanen? Die Lage der Kühn-Familien wird verbunden mit der „normalen" Unwissenheit der Arbeiter über sich und ihre Geschichte: „Schade, daß jede Generation dieser Arbeiterfamilien ihre eigenen schmerzlichen Erfahrungen machen mußte. Muß? Weil so wenig weitergegeben wird..." Keine Besserwisserei, keine . Siebengescheitigkeit der Kuhns gegenüber dem „kleinen Mann" von der Straße. Ausführlich spricht Kühn vom. Herkommen seiner Proletarier. August Kühn, der Ur- Kühn sozusagen, ist ein armes Landkind, das in die Stadt muß, weil's leben will. Er staunt über den „schloßähnlichen" Bahnhof und beschließt, gleich einmal die Residenz seines Landesvaters aufzusuchen. Und ins neue Milieu rutscht der erste Kthn bereitwillig. Selbstverständlich wächst er in die damalige SPD hinein, kein Held, ein Mitmacher: „Er wollte nicht zu hoch greifen, ah er wenn da offenbar viele gar nichts taten, konnte etwas weniger Schufterei ihm selber auch nichts schalen — irgendwie mußte das schon auszugleichen seit." Er zahlt in die Streikkasse, und wenn die verbotene Partei Leute für den „Wahlveren" braucht, ist er da. Die Familie wächst. Da sind die kleinbürgerlichen Wunschträume seiner Frau, die als Dienstmädchen in einer „besseren" Familie gearbeitet hat und die durch ihren Widerstand gegen „alle Politik" scheinbar realistisch für die Interessen der Familie sorgt. Greifbar wird die Dialektik der Unterdrückung r Die Sorgen um die Familie halten Arbeiter Kühn vom Kämpfen ab, und indem er — wie viele — nichts tut, wird seine Abhängigkeit, sein Ausgeliefertsein schlimmer. Die Alternative: sich ducken und warten, bis man etwas geschenkt kriegt, oder sich organisieien